Es ist nur wenig bekannt, dass Adelbert von Chamisso, deutscher Dichter der Romantik mit französischen Wurzeln, auch Naturwissenschaftler war. Zusammen mit Johann Friedrich Eschscholtz entdeckte vor 200 Jahren, am 13. und 14. Oktober 1815 den Generationswechsel an freischwimmenden Manteltieren, sogenannten Salpen.
Chamisso und Eschscholtz nahmen in den Jahren 1815-1818 an einer russischen Expedition teil, die von dem russischen Grafen Romanzoff finanziert wurde. Kapitän des Expeditionsschiffes war Otto von Kotzebue, Sohn des 1819 ermordeten Dichters August von Kotzebue. An dieser Expedition durfte der deutsch-französische Dichter Adelbert von Chamisso (1781 – 1838), der einige Semester Naturwissenschaften an der jungen Berliner Universität studiert hatte, als Naturforscher teilnehmen. Der Doktor der Medizin und Zoologe Eschscholtz fungierte als Schiffsarzt.
Gerne würde ich Chamissos Reise nachreisen. Das wäre heute mit den modernen Verkehrsmitteln nicht so schwierig, für einen Rollstuhlfahrer trotzdem nicht ganz einfach. Einfach ist es aber, mithilfe von Google Earth Chamissos Reise nachzuvollziehen und einen aktuellen Blick auf die Orte und Landschaften zu werfen, die er vor 200 Jahren besucht hat. In dem Buch „Der Palme luft’ge Krone – mit Chamisso auf Weltreise“ habe ich versucht, auch Informationen über die Zeit vor Chamissos Besuch zu geben und einen Blick auf die Geschichte der folgenden 200 Jahren bis heute zu werfen.
Das Buch ist vor einem Jahr beim Wagner Verlag, Gelnhausen, erschienen. Nach Insolvenz dieses Verlags im Frühjahr dieses Jahres war es als vergriffen gemeldet, eine Neuauflage ist beim Angele Verlag erschienen.
Wilfried Probst (2.A., 2015): Der Palme luft’ge Krone – mit Chamisso auf Weltreise. Ochsenhausen: Angele Verlag. ISBN 978-3-940857-12-5; 14,80 €
https://www.buchhandel.de/buch/Der-Palme-luft-ge-Krone-9783940857125
Der folgende Text über die Entdeckung des Generationswechsels ist diesem Buch entnommen:
Die erste Entdeckung – vielleicht die größte
Endlich gelingt die Ausfahrt. Das nächste Ziel ist Teneriffa. Zunächst ist das Wetter sehr stürmisch, doch ab dem 39. Breitengrad herrscht Windstille, und es wird sehr heiß.
„Am 13. Oktober und den folgenden Tagen hatten wir immer mit 30° 47′ nördlicher Breite fast fünf Tage vollkommene Windstille. Das Meer ebnete sich zu einem glatten Spiegel, schlaff hingen die Segel von den Rah, und keine Bewegung war zu spüren.“ (34)
Die Matrosen haben wenig zu tun und hängen untätig an Deck herum, auch Chamisso und Eschscholtz, begierig auf neue Entdeckungen in fernen Landen, sind frustriert über diese Verzögerung der Reise. Zur Untätigkeit gezwungen, leiden sie besonders unter der Hitze.
Zu der Langeweile kommt die bedrängende Enge an Bord, insbesondere in dem kleinen „Aufenthaltsraum“, in dem nicht nur gegessen und geschlafen, sondern zum Beispiel auch geschrieben werden muss. Für Adelbert bedeutete dies eine große Einschränkung. Nur wenn die Offiziere den Platz freigeben, kann er den Tisch für eigene Arbeiten nutzen.
Nun zeigt sich auch zum ersten Mal deutlich, welch schwierigen Menschen sie sich mit Wormskjold an Bord geholt haben. Besonders der Maler, Ludwig Choris, der neben ihm in der Hängematte schlafen muss, hat unter seinen Launen und Maßregelungen zu leiden. Dabei ist besonders unangenehm, dass sich Wormskjold regelmäßig betrinkt und dann unverschämt und ausfallend werden kann.
Beim gemeinsamen Essen der Offiziere und der Gelehrten in der engen Kajüte fragt Chamisso den Kapitän: „Wird die Windstille noch lange anhalten? Wie sollen wir so je auf die Kanaren kommen?“
„Ja, verehrter Chamisso, damit müssen Sie sich leider abfinden. Wir sind in den Rossbreiten, und da kann es auch einmal ein paar Wochen windstill bleiben. Diese Zonen etwa zwischen dem 35. und 25. Grad nördlicher Breite sind extrem niederschlagsarm und außerdem auch weitgehend windstill.
„Oh Gott – und wie kommt diese Gegend zu ihrem eigenartigen Namen?“
„Bei Seeleuten sind diese Zonen schon lange gefürchtet, denn wenn die Windstille lange anhält, kann das Trinkwasser knapp werden. Da etwa mitgeführte Pferde und andere Tiere besonders viel Wasser benötigen, kam es häufig dazu, dass man diese Tiere töten musste – daher der Name.“
„Beruhigend zu wissen. Nun, Friedrich, lass uns das Beste daraus machen. Nutzen wir die Zeit für ein paar meeresbiologische Untersuchungen.“
„Ja, eine gute Idee, Adelbert, denn überall um das Schiff herum sind erstaunlich viele quallenartige Tiere zu sehen. Die sollten wir uns einmal genauer anschauen.“
Wormskjold nutzt die Flaute zu einigen Messungen und Beobachtungen, wozu er sich mit einem kleinen Boot aussetzen lässt. Chamisso und Eschscholtz werden jedoch von diesen Aktivitäten ausgeschlossen. Wormskjold ist sehr darauf bedacht, nichts von seinen Ergebnissen und Beobachtungen weiterzugeben.
So schreibt Choris in seinem Tagebuch, dass er ihm einen gefangenen Tintenfisch gezeigt hätte, den er möglicherweise für eine neue Art hält, ihn aber verpflichtet habe, davon den anderen nichts zu erzählen.
Chamisso schreibt dazu später in seiner Reisebeschreibung: „Er hatte eine eifersüchtelnde Nebenbuhlerschaft, die leider unter den Gelehrten nicht unerhört ist, dem Verhältnis, das ich ihm angeboten hatte, das ich mit Eschscholtz eingegangen war, vorgezogen.“ (35)
Dagegen kooperieren Chamisso und Eschscholtz sehr gut. Sie bauen sich ein Sonnensegel an Deck und einen kleinen Kescher aus Segeltuch. Lupen und Zeichengeräte sowie ein Beobachtungstisch werden ebenfalls an Deck geschafft. So können die Forschungen beginnen.
Eschscholtz und Chamisso angeln einige Algen und Medusen aus dem Meer, aber besonders auffällig sind Quallen ähnliche, durchsichtige Tiere, die sie bei genauer Betrachtung den Manteltieren, und zwar der Untergruppe der Salpen zuordnen können. Was dabei besonders auffällt ist, dass diese Tierchen immer in zwei unterschiedlichen Formen vorkommen: einmal als Einzeltiere, zum anderen als Tierkolonie.
Die genaue Beobachtung und Präparation zeigt, dass die Einzeltiere viele aneinandergekettete Embryonen enthalten, während in den Tieren einer Kolonie jeweils immer nur ein Embryo zu finden ist. Schließlich können die beiden durch Beobachtungen sicher nachweisen, dass es sich bei den beiden verschiedenen Formen um ein und dieselbe Art handelt. Aus den Einzeltieren gehen nämlich immer Tierkolonien hervor, und die einzelnen Tiere einer Tierkolonie bringen immer wieder Einzeltiere hervor. Es findet also ein obligatorischer Wechsel zwischen zwei un¬terschiedlichen Generationen statt. Dabei – so beschreibt dies später Chamisso in seinem Aufsatz über die Salpen – gleichen jeweils die Enkel ihren Großeltern.
Chamisso und Eschscholtz ist die Entdeckung des Generationswechsels gelungen. Diese Entdeckung wird Cha¬misso kurz nach seiner Rückkehr in einem wissenschaftlichen Aufsatz beschreiben. Dafür wird ihm die junge Berliner Universität die Doktorwürde verleihen – ganz ohne Prüfung und Disputation, also gewissermaßen „honoris causa“. Chamisso wird übrigens auch später nie eine akademische Prüfung ablegen.
Chamisso und Eschscholtz ist wohl bewusst, dass sie eine wichtige Entdeckung gemacht haben. Die wirkliche Bedeutung des „Generationswechsels“ für das Leben und die Entwicklung der Lebewesen auf der Erde können die beiden natürlich nicht abschätzen. Aber später erkennt Chamisso recht klar die biologische Bedeutung des Generationswechsels. Er schreibt in seiner Reise um die Welt ganz treffend: „Es ist, als gebäre die Raupe den Schmetterling und der Schmetterling hinwiederum die Raupe.“ (34)
Unter folgendem Link zeigt ein Taucher eine Salpe mit deutlich erkennbarer Kette von Tochtersalpen der nächsten Generation. Allerdings ist die gezeigte Art deutlich größer als Chamissos und Eschscholtz‘ Cyclosalpa pinnata: