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Verwilderung fördern

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Vom Menschen unberührte Natur macht derzeit weniger als ein Viertel der Erdoberfläche aus. Den Forderungen, solche Flächen zur Stabilisierung des Bioplaneten zu vergrößern, steht die wachsende Weltbevölkerung und die auf Wachstum begründete Weltwirtschaft entgegen. Gibt es trotzdem Möglichkeiten, natürliche Funktionsabläufe zu vermehren?

Wildnis und Naturschutz

Die vom Menschen noch kaum veränderten Gebiet der Erdoberfläche machen gegenwärtig weniger als ein Viertel aus. 77% der Landfläche (ohne Antarktika) und 87% der Meere sind bis heute durch menschliche Aktivitäten verändert worden, der größte Teil davon in den letzten 50 Jahren (Watson, Allen u.a. 2018). Dies wird von vielen Ökologen als ein großes Problem angesehen, denn vom Menschen bisher kaum beeinflussten Wildnis-Gebiete gelten als wichtigster Puffer gegen den Verlust der biologischen Vielfalt und die Klimaveränderungen. Wildnisgebiete regulieren Wasserkreisläufe und Klimazyklen und schützen damit vor extremen Wetterereignissen. Außerdem stellen sie wichtige Referenzflächen für die Regeneration und Renaturierung degradierter Landflächen und Meeresgebiete dar. Die Degradation und Fragmentaktion naturnaher Restflächen verstärken die nachteiligen Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Biodiversität (Mantyka-Pringle u. a. 2012).

Den Erhalt von Wildnis ist deshalb ein wichtiges Naturschutzziel.

Aber was ist Wildnis? Ist es im Sinne Aldo Leopolds von Menschen unberührte Natur? Oder sind mit domestizierten Rindern und Pferden beweidete „halboffene Weidelandschaften“ ebenso Wildnis, wie dies Jan Haft in seinem Buch „Wildnis“ darstellt? Welche Rolle spielt Wildnis für die Biodiversität, für den Klimaschutz und für den Erhalt natürlicher Ressourcen? Haben Aufforstungsprogramme etwas mit Wildnis zu tun? Inwiefern ist der Naturschutz mit Wildnis-Vorstellungen verknüpft?

Viele Fragen. Ein Versuch, sie zu beantworten, lässt schnell erkennen, dass es recht unterschiedliche menschliche Vorstellungen von „wilder Natur“ und den Beziehungen der Menschen zu solcher Wildnis gibt.

Europäische Wildnis?

Die in Mitteleuropa seit der letzten Kaltzeit in etwa 12 000 Jahren – also einer erdgeschichtlich sehr kurzen Zeitspanne – entstandenen Landschaften waren von Anfang an vom Menschen beeinflusst. Die menschliche Nutzung hat ein kleinräumiges Mosaik von Lebensräumen geschaffen und zu einer Artenvielfalt geführt, die sich vermutlich ohne den Menschen und seine Nutztiere nicht oder zumindest nicht so schnell entwickelt hätte.

Eine kleinräumig strukturierte Kulturlandschaft hat sich in Mitteleuropa bis heute in einigen Gebieten erhalten (Foto W. Probst 14.9.2012)

Ein flächendeckender Urwald, wie er über die Jahrhunderte heute vermutlich ohne menschlichen Einfluss in Mitteleuropa entstehen würde, hätte sicher eine geringere Artenvielfalt aufzuweisen als die ursprüngliche, vorindustrielle Kulturlandschaft. Der Biologe und Naturfilmer Jan Haft belegt dies in seinem Buch „Wildnis“ mit gut recherchierten Zahlen und Aussagen von Experten (Haft 2023). Es ist deshalb verständlich, dass Naturschutz in Mitteleuropa in vielen Fällen mit Managementmaßnahmen verbunden ist, bei denen es darum geht, traditionelle Landbewirtschaftungsmaßnahmen nachzuahmen. Schilfbestände in Feuchtgebieten werden abgemäht und das Mähgut gut wird entfernt um einen Zustand magerer Feuchtwiesen zu erreichen, der alten Streuwiesen entspricht. Heiden und Moore werden maschinell oder von Hand von Gehölzen befreit (entkusselt), um einen Zustand herzustellen, der einer extensiven Beweidung entspricht. Feldhecken, die früher auch der Nutzholzgewinnung dienten, werden als Naturschutzmaßnahme weiterhin regelmäßig „auf den Stock gesetzt“, um das Durchwachsen zu Baumreihen zu verhindern und den für Kleinsäuger, Vögel, Reptilien und viele Wirbellosen wertvollen Heckencharakter zu erhalten. Alle diese Maßnahmen zielen auf den Erhalt von Landschaften ab, die man nicht als „unberührte Natur“ bezeichnen kann.

In den zwischeneiszeitlichen Warmzeiten allerdings war die Biodiversität ebenfalls deutlich höher. Ursache waren vermutlich die zahlreichen großen Herbivoren, deren Weidetätigkeit die Bildung geschlossener Urwälder verhinderte. Vielmehr herrschten offene, savannenähnliche Landschaften , wie sie heute zum Beispiel noch in Afrika zu finden sind. Dass es solche großen Pflanzenfresser seit dem Ende der letzten Kaltzeit in Europa nicht mehr gibt, ist vermutlich auf die Tätigkeit menschlicher Jäger zurückzuführen ( Sandom et al. 2014). Streng genommen könnte man deshalb diese voreiszeitliche Landschaft als die eigentliche mitteleuropäische Wildnis ansehen.

Nordamerikanische Wilderness

In Nordamerika ist der Naturschutz deutlich stärker mit dem Wildnisbegriff im Sinne von unberührter Natur verbunden als in Europa. Der Naturalist und Dichter Henry David Thoureau forderte schon 1862, dass jede amerikanische Stadt zur Bildung und Erholung ihrer Bevölkerung 200-400 ha Wildnis so bewahren sollte, dass darin nicht einmal die Spur eines geschnittenen Stockes zu erkennen wäre (nach Trommer 2023). Auch für den großen amerikanischen Naturschützer John Muir war die wilde, von Menschen unberührte Natur der zu schützende Idealzustand. Ebenso setzte sich der Wildtierbiologe Aldo Leopold (1887-1948) für die Bewahrung von Wildnis als einem von Menschen weitestgehend unbeeinflusstem Naturraum ein. Seine Schriften hatten großen Einfluss auf den 1964 beschlossenen Wilderness Act, mit dem ein System von vollständig geschützten Wilderness Areas geschaffen wurde (Henderson o.J.).

Diese unterschiedlichen Vorstellungen von Naturschutz in Nordamerika und Europa hängen sicherlich auch damit zusammen, dass die Landschaftsveränderungen in Nordamerika im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert in atemberaubender Geschwindigkeit verliefen und deshalb im Laufe eines Menschenlebens sehr gut zu beobachten waren. Die europäischen Siedler bewirkten eine sehr rasche und drastische Veränderung und verhinderten von vorneherein die Entwicklung einer europäischen Verhältnissen vergleichbaren kleinräumig strukturierten Kulturlandschaft.

Agrarlandschaft in Illinois (Foto W.Probst 1989)

Außerdem war der Ausgangszustand nach der Eiszeit in Nordamerika biodiverser als in Europa. In Nordamerika konnten sich die Biodiversität nach der letzten Eiszeit  schneller regenerieren als in Europa, da die Biozönosen während der Kaltzeiten wegen der vorwiegend von Norden nach Süden streichenden Gebirge nicht so stark dezimiert wurden.  In Mitteleuropas war eine Rückzugsmöglichkeit nach Süden durch die Alpen weitgehend versperrt.

Allerdings sind auch in Nordamerika viele der vor den Kaltzeiten oder in Zwischenwarmzeiten noch existenten großen Pflanzenfesser einschließlich ihrer Prädatoren verschwunden. Es ist naheliegend, zu vermuten, dass auch hier menschlicher Einfluss, die Jagd, für das Aussterben entscheidend war. Ähnliche Entwicklungen kann man auch für Australien und Teile Asiens nachweisen. Lediglich in Afrika haben bis heute eine Vielzahl großer Herbivoren und Carnivoren überlebt. Dies wird damit in Verbindung gebracht, dass sich in Afrika Menschen und Großsäuger über lange Zeiträume parallel entwickelt haben.

Welche Wildnis wollen wir?

Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass nicht so ganz eindeutig ist, was jeweils unter „Wildnis“ , also einem ursprünglichen Naturzustand, gemeint ist und welche günstigen Wirkungen auf eine nachhaltige Entwicklung des Bioplaneten Erde sich daraus ergeben. Geht es um einen Zustand ohne jeglichen menschlichen Einfluss, also um Ökosysteme ohne Homo sapiens oder gehören auch sogenannte Naturvölker dazu? Welche Rolle spielen reich strukturierte Kulturlandschaften, wie sie bis zu Beginn der Industrialisierung in Europa vorherrschend waren? Wie sind die Veränderungen – man kann auch sagen Ausrottungen – zu bewerten, die schon durch Jäger und Sammler bei der Besiedelung Australiens  und Amerikas bewirkt wurden? Wo zieht man die Grenzen? Ist es wirklich notwendig, völlig unberührte (menschenfreie) Natur zu erhalten, oder können menschliche Aktivitäten teilweise dazu führen, dass Funktionen im Naturgeschehen wieder ablaufen, die vormenschlichen Bedingungen entsprechen? Geht es also mehr um „wilde“ Funktionsabläufe als den Erhalt eines menschenfreien Zustandes?

Wilde Weiden

Heckrinder-Bulle im Leimbach-Hepbacher Ried bei Markdorf, Baden-Württemberg (Foto Probst 2011)

Jan Haft zielt in seinem Buch „Wildnis“ genau auf dieses Funktionsverständnis von Wildnis ab, das im Naturschutz auch als „Prozessschutz“ bezeichnet wird. Dabei geht es ihm vor allem um die Ökosysteme mit großen Pflanzenfressern, die in vielen Gebieten der Erde vor dem Erscheinen des Menschen große Räume einnahmen. Diese vorzeitliche Wildnis könnte funktional wiederhergestellt werden durch domestiziert Weidetiere, deren Populationen nicht durch Carnivoren sondern durch den Menschen reguliert werden. Die mittlerweile an vielen Orten etablierten „halboffenen Weidelandschaften“ sind ein gutes Beispiel dafür, dass solche wilde Weiden der Biodiversität wirklich sehr förderlich sind und dass in solchen Gebieten viele bedrohte Arten sich wieder ausbreiten und regenerieren konnten. Zwei sehr gut dokumentiertes Beispieleaus meiner früheren Heimat sind die auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz der Bundeswehr entstandene Weidelandschaft „Stiftungsland Schäferhaus“ bei Flensburg und das Stiftungsland Winderatter See – Kielstau (Janßen 2011-2020)

Das Prinzip dieser Art von Verwilderung lässt sich auf andere Bereiche ausweiten. Einige Beispiele:

Aufforstung

Bäume pflanzen und durch Trockenheit und Schädlingsbefall – vor allem Windbruch und Borkenkäfer –  geschädigte oder zusammengebrochenen Wälder durch Aufforstung zu regenerieren gilt nicht nur als eine wichtige Maßnahme des Klimaschutzes sondern auch des Naturschutzes und der Förderung der Biodiversität. Dem widerspricht zum Beispiel der Förster und Erfolgsautor Peter Wohlleben: „Wald kommt von ganz alleine zurück, das macht er seit 300 Millionen Jahren.“ Global gäbe es kein Beispiel dafür, dass gepflanzter Wald besser funktioniert, als ein Wald, der von selbst zurück wächst. Besonders widerspricht Wohlleben der Annahme, Bäumepflanzen sei eine unumstrittene Klimaschutzmaßnahme. Eine frisch gepflanzte Aufforstung stoße in den ersten Jahren bis Jahrzehnten mehr CO2 aus, als die neu gepflanzten Bäume aufnehmen könnten (Wohlleben in“Hart aber fair“ , 01.11.21).

Erfahrungen im Nationalpark Bayerischer Wald geben Wohllebens Auffassung recht. Nachdem in den 1990 er Jahren durch Borkenkäferbefall rund 60.000 ha Wald zugrunde gegangen waren, hielt die Nationalparkverwaltung trotz großer Proteste der Öffentlichkeit an ihrer Nichteingriffsstrategie fest. Die sich hervorragend regenerierenden Bergwaldflächen sind mittlerweile ein international bekanntes Beispiel für natürliche Waldregeneration (Bibelriether 2017).

Ackerbau

Die hohe Biodiversität einer kleinräumig strukturierten Kulturlandschaft, wie sie in früheren Jahrhunderten für Mitteleuropa typisch war, ist unbestritten. Viele hiesige Naturschutzmaßnahmen zielen deshalb darauf ab, alte bäuerliche Bewirtschaftungsformen zu simulieren. Dies geht aber nur auf verhältnismäßig kleinen, abgeschlossenen Naturschutzflächen. Großflächig dominieren weiterhin große, unstrukturierte Ackerflächen, da nur solche mit Großmaschinen rationell bearbeitet werden können. Wäre es nicht denkbar, dass eine zunehmende Digitalisierung der Landwirtschaft auch eine rationelle maschinelle Bearbeitung kleinräumig strukturierte Anbauflächen ermöglichen würde? Statt dinosaurierartiger Riesenmaschinen könnten kleine Agrarroboter Bearbeitung und Ernte übernehmen, die von Satelliten oder Drohnen gesteuert ganz gezielt eingesetzt werden könnten. Sie würden sich an einem verhältnismäßig engmaschigen Netz von Feldhecken und Feldgehölzen, Randstreifen und Saumbiotopen nicht stören. So könnte eine kostengünstige Produktion ermöglicht werden, ohne natürliche Funktionsabläufe vollkommen zu unterbinden.

Auch die arbeitsintensiven Methoden der Permamakulturen und der Agroforestry, die versuchen, natürliche Prozesse nicht zu unterdrücken sondern auszunutzen, könnten durch KI-Einsatz rentabler werden.

Landwirtschaft, die natürliche Funktionsabläufe zulässt (Grafik W. Probst)

KI in der Landwirtschaft

Der nächste Schritt in der technologischen Entwicklung intelligenter landwirtschaftlicher Maschinen könnte eine Art Schweizer Armeemesser sein: ein Roboter, der jede Pflanze individuell behandelt, nicht nur mit Herbiziden sondern auch mit angepassten Düngemitteln, Insektiziden und Fungiziden und gezielter Bewässerung, alles in einem Arbeitsgang und jeweils nur in der benötigten Menge. Die Folgen einer solchen. Behandlung von Einzelpflanzen statt von ganzen Feldern bedeutet nicht nur eine deutliche Reduktion benötigter Chemikalien und anderer Ressourcen. Es könnte schließlich auch zu einem Ende der Monokulturen führen, einem Ende von Kornfeldern oder Sojafeldern soweit das Auge reicht, die heute der Normalfall sind. Monokulturen laugen Böden aus und sind riskant, da solche nur von einer Pflanzenart bewachsene Felder für Schädlingsbefall und andere Katastrophen besonders anfällig sind.“ (Übersetzt aus Little, A. (2019): The fate of food. What we’ll eat in a bigger,hotter,smarter World. London: Oneworld Publications, p.106)

Paludikultur

Bis vor 200 Jahren waren Torfmoore die letzten unberührten Naturlandschaften Mitteleuropas. Durch Entwässerung und Bodenbearbeitung, Torfstich zur Brennmaterialgewinnung und später für Blumenerde und Gärtnereibedarf führten zum weitgehenden Verschwinden ursprünglicher Moore mit aktiver Torfbildung. Im Zuge der Klimaerhitzung hat man festgestellt, dass die Torfbildung unter Mooren eine sehr effektive Form der Kohlenstoffspeicherung darstellt. Deshalb werden seit einiger Zeit große Anstrengungen unternommen, um aktive Moore zu regenerieren. Dies muss aber nicht unbedingt zur Herstellung des ursprünglichen Zustandes führen. Eine Alternative sind die sogenannten Paludikulturen, bei denen auf wieder vernässten Torfböden nutzbare Pflanzenproduktion betrieben wird. Geerntet werden können nicht nur Schilf und Sauergräser sondern auch Torfmoose, aus denen ein für Gärtnereizwecke besonders wertvolles, dem Hochmoortorf entsprechendes Grundsubstrat gewonnen werden kann. Die Kohlenstoff-speichernden Torfschichten bleiben erhalten. Auch weitere ökologische Funktionen wie Regulierung des Wasserhaushaltes und Erhalt von Lebensräumen für moortypische Tiere und Pflanzen blieben – zumindest teilweise – erhalten (Tanneberger, Schroeder 2023)

Migration

Arten, die sich in einem Gebiet ausgebreitet und etabliert haben, in dem sie zuvor nicht heimisch waren, nennt man Neobiota (auch Neobionten, Sing. der Neobiont). Enger gefasst versteht man darunter nur solche Arten, für deren Einbürgerung indirekt oder direkt menschliche Aktivitäten verantwortlich waren. Arten, die sich ohne menschlichen Einfluss ausgebreitet haben, werden dann als Neueinheimische (Neonative) bezeichnet. Besonders wichtig für Neobiota im engeren Sinne ist der weltweite Güterverkehr.

Nach einer Recherche von Kleunen et al. 2015 wurden bs dahin weltweit 13.168 Pflanzenarten durch menschliche Aktivitäten in neuen Gebieten eingebürgert. Besonders neobiontenreich ist Nordamerika, die größte Anzahl der weltweit neu eingebürgerten Arten stammt aus Europa. Beides hängt vermutlich direkt mit der Kolonisation zusammen, die von Europa ausging.

Vom Naturschutz wird diese menschenbedingte Migration zumeist als großes Problem angesehen, da neu eingewanderte Arten etablierte, heimische Arten verdrängen und Ökosysteme verändern können. Der Naturschutz versucht deshalb, diese Migration zu verhindern und die Migranten wenn möglich wieder aus den neu eroberten Gebieten zu verdrängen. Tatsächlich haben Neobiota teilweise zu drastischen Veränderungen der ursprünglichen Ökosysteme beigetragen. Dies gilt besonders für pazifische Inseln, die von europäischen Kolonisatoren nicht nur mit landwirtschaftlichen Nutzpflanzen und Nutztieren (Schweine, Ziegen) sondern auch mit Ratten und europäischen Wildpflanzen von Äckern und Weiden „geimpft“ wurden. Die sehr speziellen Ökosysteme hatten solchen im wahrsten Sinne des Wortes invasiven Arten nichts oder wenig entgegenzusetzen und viele auf den Inseln endemisch Arten wurden ausgerottet.

Andererseits ist Migration ein sehr natürlicher Vorgang, der für die Geschichte des Lebens auf der Erde eine entscheidende Rolle gespielt hat. Mancuso (2021) bezeichnet Migration nicht ganz zu Unrecht sogar als „Essenz des Lebens“. Allen Lebewesen, so Mancuso, sei ein „Wandertrieb“ eigen, das Bestreben, sich möglichst effektiv auszubreiten, das Verbreitungsareal zu vergrößern. Durch solche Wanderungen bedingte Veränderungen wären für die Entwicklung des Lebens auf unserem Planeten – nicht zuletzt auch für die Evolution des Menschen – von großer Bedeutung. Vom Menschen geförderte oder verursachte Migration ist nicht etwas grundsätzlich anderes als natürliche Migration, allerdings kann vom Menschen geförderte Ausbreitung natürliche Ausbreitungsschranken schneller überwinden und auch große Entfernungen können durch moderne Verkehrsmittel schnell überbrückt werden.

Um den Artenbestand von Inseln zu erklären, haben  MacArthur und Edward O. Wilson 1967 die mittlerweile breit akzeptierte Gleichgewichtstheorie der Inselbesiedelung entwickelt. Danach stellt sich – qualitativ leicht zu beschreiben – auf jeder Insel ein Gleichgewicht zwischen Einwanderungsrate und Aussterberate der Arten ein. Je mehr Arten auf einer Insel vorhanden sind, desto geringer ist die Einwanderungsrate. Entweder, da keine Arten zur Einwanderung mehr zur Verfügung stehen, oder, da es keinen Platz mehr für die neu zugekommenen Arten gibt, da also keine „Nischenbildung“ mehr für sie möglich ist. Umgekehrt ist die Aussterberate umso größer, je mehr Arten auf der Insel sind. Steht  genügend Zeit zur Verfügung, stellt sich ein Gleichgewicht ein, eine bestimmte Artenanzahl. Die Zusammensetzung der Arten, das Artenspektrum, kann sich oder muss sich allerdings weiter ändern, da ja immer Arten aussterben und Arten einwandern, jeweils in einer Rate, die dem Gleichgewicht entspricht. Ohne Migration würde die Artenanzahl auf Inseln danach kontinuierlich abnehmen. Dies gilt aber natürlich auch für andere mehr oder weniger abgeschlossene Gebiete und vermutlich sogar für ganze Kontinente.

Die meisten Neobiota haben sich gut in die Ökosysteme integriert, ohne dass nachteilige ökologische Auswirkungen erkennbar wären. Eine gezielte Bekämpfung ist deshalb in den meisten Fällen nicht notwendig und – wenn sich die Arten schon weit verbreitet haben – auch wenig erfolgversprechend. Die Ausbreitung und Etablierung von Neobiota kann bei sich veränderndem Klima sogar eine Stabilisierung von Ökosystemen bedeuten. Auch das Bundesamt für Naturschutz empfiehlt deshalb eine weitgehende Akzeptanz der Neubürger und eine Bekämpfung nur in begründeten Einzelfällen.

Verkehr

Die Hauptprobleme, die sich durch privaten und öffentlichen Verkehr ergeben, sind die Zerschneidung der Landschaft und die Produktion schädlicher Abgase. Das zweitgenannte Problem versucht man durch „grüne Energie“ und Abschaffung von Verbrennungsmotoren zu beheben. Das erste Problem ist für die natürliche Funktionsabläufe in einer Landschaft besonders gravierend. Es könnte zum Teil dadurch behoben werden, dass die Zerschneidungseffekte von Verkehrswegen durch grüne Brücken vermindert werden, noch effektiver durch großzügigen Brücken- und Tunnelbau. Dabei spielt die fachgerechte Ausführung und Unterhaltung der Grünverbindungen eine entscheidende Rolle (Peters-Ostenberg, Henneberg 2023).

Auch durch Alleen kann der schädliche Zerschneidungseffekt von Verkehrswegen gemindert werden. Außer ihrer Bedeutung als vernetzendes Element stellen sie selbst vielseitige Lebensräume dar.

Städte und Siedlungen

Zwischen 1985 und 2015 hat die die Ausdehnung von Städten und Siedlungen jährlich um 9687 km² zugenommen, mit steigender Tendenz (Liu et al. 2020). Damit ist der Flächenverbrauch der Städte schneller gewachsen als die Bevölkerung. Für eine nachhaltige Entwicklung müssen Städte deshalb „ökologischer“ werden. Damit ist gemeint, dass Funktionsabläufe in dem Ökosystem Stadt stärker den Funktionsabläufen in einem natürlichen Ökosystem entsprechen sollen. Eine Stadt mit großen Grünanlagen wie Parks und Gärten bietet zwar eine hohe Lebensqualität und eine bessere Ökobilanz. Dies geht aber insofern auf Kosten der Umgebung, als sie mehr Fläche für denselben umbauten Raum benötigt. Eine Erfolg versprechende Möglichkeit für dicht bebaute Großstädte ist die Integration von Bauwerken und Grünanlagen.

Neben Minderung des Klimawandels durch eine Verbesserung der CO2-Bilanz können dadurch auch die Auswirkungen einer Klimaerwärmung verringert werden (Lass u. a. 2022). Schließlich wirken mit Sachverstand begrünte Städte auch dem Verlust der Biodiversität entgegen.

Dächer

Schon lange zählt es zu Attributen ökologischer Bauweise, Dächer zu begrünen. Die Etablierung und Ausgestaltung solcher Dachgärten und Wiesen ist aber noch sehr stark ausbaufähig, wie man auf Luftbildern von Städten leicht erkennen kann. Begrünte Dächer können durch Brücken vernetzt werden. Durch treppenartige Anordnung von Gebäudeteilen können Verbindungen zur Grundfläche hergestellt werden. Beim Bewuchs selbst könnte dem Prinzip „Wachsen lassen“ mehr Raum gegeben werden.

Vernetzung von begrünten Dächern (Grafik W.Probst)

Fassaden

Auch begrünte Fassaden gibt es schon lange, aber eher an alten Bauernhäuser auf dem Land als an mehrgeschossigen Stadthäusern, Bankhochhäusern und Industrieanlagen. Außerdem sind die bisher architektonisch verwirklichten Grünfassaden gärtnerisch aufwändige Konstruktion, die eine hohe Wartung benötigen. Ziel müsste es sein, möglichst wartungsarme sich selbsterhaltende Systeme zu erzeugen.

Eine Möglichkeit für eine schnelle flächenhafte Begrünung wären Module, die mit einfachen Mitteln an Fassaden angebracht werden können und die durch Anschluss an eine Bewässerungsanlage wartungsarm sind. Die Elemente könnten aus einem Gerüst bestehen, an dem mehrere auswechselbare Pflanzgefäße aufgehängt werden. Fensterfassaden könnten  durch berankte Schnurgerüste – Hopfenfeldern vergleichbar – begrünt und beschattet werden.

Fassadenbegrünung mit vorgefertigten Modulen (Grafik W. Probst)

Ein interessanter Vorschlag sind vorbegrünte Pflanzennetze. Solche „Urban Pergolas“ sollen als Verschattungssystem der Aufheizung von Fassaden entgegenwirken und die Städte in einen „diversen Großstadtdschungel“ verwandeln. Die Pflanzennetze können an einem oder zwischen mehreren Gebäuden angebracht werden und dadurch Grünflächen schaffen, ohne andere Nutzungen den Platz wegzunehmen (Urban Pergola 2021).

Balkone

Eine weitere Möglichkeit der vertikalen Begrünung, die in wenigen Beispielen schon verwirklicht ist, wäre die Ausgestaltung von Pflanzbalkonen mit Sträuchern und Bäumen (Boeri 2015).

Hochhäuser als Gewächshäuser, „Vertical Farming“

Diese platzsparende Form der Landwirtschaft setzt einen preisgünstigen Zugang zu alternativen Energien voraus, wird aber heute schon als eine wichtige, nachhaltige und zukunftsfähige Ergänzung zur Flächen gebundenen Landwirtschaft gesehen:

Die Fluggesellschaft Emirates Airline plant deshalb die größte Vertical Farm der Welt neben dem Flughafen von Dubai. Singapur plant schwimmende Vertical Farms.

Wenn es in der Zukunft gelingt, den Kraftfahrzeugverkehr weitgehend aus den Stadtzentren herauszuhalten, werden dort auch keine Parkhäuser mehr benötigt und diese könnten zu „Plantscrapern“ werden (Despommier 2011).

Ritzen und Fugen

Der portugiesische Stadtplaner und Architekt Ángel Panero Pardo stellte auf dem großen Platz vor der Wallfahrtskathedrale von Santiago de Compostela während der Corona Pandemie fest, dass sich dieser Platz nach dem Ausbleiben der Pilger in ein Biotop für Wildkräuter verwandelt hatte. Die Fugen zwischen den Pflastersteinen waren grün. Der Stadtplaner überlegte, dass dieser zusätzliche Pflanzenwuchs sich eventuell positiv auf das Stadtklima auswirken könnte. Die Botaniker der Universität von Santiago de Compostela wurde mit einer Untersuchung beauftragt und sie stellten mit einer Wärmebildkamera fest, dass die bewachsenen Ritzen eine bis zu 28 °C niedrigere Oberflächen-temperatur aus aufwiesen als die Steine (Prinz 2023).

Dieses Ergebnis fand in den Medien einen breiten Widerhall, obwohl es eigentlich nicht so verwunderlich ist. Wenn man Fugen und Ritzen in Pflastern und Mauern nicht länger von jedem Bewuchs frei hält, sondern Bewuchs zulässt, hat dies einen messbar positiven Einfluss auf das Stadtklima.

Gehsteigkante mit Acker-Winde, Oberteuringen, 27.7.2016 (Foto W. Probst)

Gärten

Ein besonders großes Potenzial stellen Privatgärten dar, die vor allem in den Randbereichen der Städte in  Vierteln mit Einfamilien- und Reihenhäusern konzentriert sind. Hier gilt meist das Prinzip, dass nur wachsen darf, was gepflanzt wurde. Der Garten darf nicht „verwildern“. „Un“kraut jäten ist deshalb  neben Rasen mähen und Hecken schneiden die häufigste Beschäftigung des Hobbygärtners. Um das Unkraut ohne zu viel manuelle Tätigkeit fern zu halten, hat sich schon vor einigen Jahrzehnten verbreitet, die Beete mit einer Schicht aus keimungs- und wachstumshemmendem Rindenmulch zu bedecken.Seit einigen Jahren wird eine noch pflanzenfeindlichere Methode, das Auskiesen von Gartenflächen, immer beliebter.

Dabei gibt es viele Möglichkeiten, natürliche Funktionsabläufe im Garten zuzulassen oder sogar zu fördern und so eine „Verwilderung“ zu ermöglichen, die durchaus ästhetischen Ansprüchen gerecht werden kann:

  • Zierpflanzen, die gut gedeihen, fördern, auf solche, die schlecht wachsen oder sehr viel Pflege benötigen, verzichten,
  • auf Pestizide verzichten oder sie nur sehr gezielt bei einzelnen befallenen Pflanzen einsetzen,
  • Wildpflanzen nur entfernen, wenn sie gewünschte Zier- oder Nutzpflanzen schädigen oder verdrängen,
  • Wildpfanzen unter Hecken oder Sträuchern wachsen lassen,
  • Rasenflächen, die rein ornamentale Funktion haben, zu mageren (nicht gedüngten), höchstens zweimal im Jahr gemähten Wiesen umwandeln,
  • Abstellflächen (z.B. Autostellplätze) nicht pflastern oder asphaltieren, sondern als Schotterrasen gestalten,
  • Einfahrten mit unterbrochenen Pflastersteinen befestigen, die Bewuchs und Wasserversickerung ermöglichen,
  • abgeblühte Blütenstände und abgestorbene  Fruchtstände wenigstens teilweise stehen lassen, auch über Herbst und Winter (Vogelfutter, Überwinterungsplätze für Insekten)
  • Gartenabfälle vor Ort kompostieren,
  • aus Strauch- und Baumschnitt Reisighaufen anlegen,
  • Gartenmauern als Trockenmauern anlegen, Mauerritzen können zur schnelleren Begrünung mit passenden Pflanzen geimpft werden (Zimbelkraut, Mauerraute, Schöllkraut, Polster von Mauermoosen wie Drehzahnmoos, Kissenmoos)
  • Abwechslungsreiche Besiedelungsflächen schaffen (Sandflächen, Lehmböden, humusreiche Böden, Stein- bzw. Bauschutthaufen),
  • Regenwasser vom Dach (und versiegelten Flächen) in Zisterne sammeln und als Gießwasser (ggf. auch für Teich /Bachlauf) nutzen.

Städte mit grünem Pelz

Ergänzend zu den genannten Maßnahmen können Verkehrswege, insbesondere Straßen und Schienenverkehr, wie U-Bahnen unter die Oberfläche verlegt werden, wodurch Platz für bodenständige Grünanlagen aber auch Rad- und Fußwege gewonnen würde.

So könnten schließlich Städte entstehen, die ganz in einem grünen Pelz eingehüllt sind und die sich fast übergangslos in die umgebende Landschaft einfügen (vgl. Jean Nouvel 2014, Boeri 2015).

Verwilderung zulassen                               

Ein Garten, in dem verhältnismäßig wenig pflegerische Eingriffe vorgenommen werden, „verwildert“. Diese Art von Verwilderung ergibt sich aus natürlichen Funktionsabläufe, die nicht durch menschliche Eingriffe unterbrochen werden. Wenn man sich bei allen Eingriffen und Pflegemaßnahmen – Manipulationen der Natur – überlegt,  welche Ziele mit Ihnen verfolgt werden sollen und ob diese Ziele notwendig und sinnvoll sind, wird man schnell erkennen, dass man auf viele Eingriffe verzichten könnte. Ein solcher Verzicht ist ein Schritt in Richtung Wildnis, wenn man unter Wildnis Vewilderung, das Zulassen natürlicher Prozesse, versteht.

Verwilderter Apfelgarten bei Flensburg (Foto U.Niss)

Quellen

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